Xxii. §. 10. Die großen Kirchenversammlungen und die Hussiten. 455
klagte unter der unerhörten maßlosen Geldgier der beiden Päpste, de-
ren jeder (namentlich aber der französische Papst) nur darauf bedacht
schien, durch alle rechtmäßigen oder unrechtmäßigen Mittel Geld her-
beizuschaffen, theils um den eignen Lüsten zu fröhnen, theils um den
Gegner zu bekämpfen. Das schlug dem Faß vollends den Boden aus.
Auch die Franzosen wurden es müde, ihren Papst zu Avignon um
solchen Preis bei sich zu dulden. Sie wollten ihn zwingen, sich mit
dem römischen Papst zu vertragen. Aber von Vertragen kann unter
Päpsten nie die Rede sein. Lieber entfloh Benedict Xiii., der zu
Avignon auf Clemens Vii. gefolgt war, aus Frankreich nach Spa-
nien, und sprach von seinem Schloß von Perpignan, später von dem
einsamen Peniscola aus, den Bannfluch über die ganze Welt. Da
nun auf solche Weise der Sache nicht geholfen war, so kam man wie-
der auf die alte Forderung zurück, die schon früher von den französi-
schen Königen gegenüber dem Papst Bonifacius Viii. erhoben war,
nämlich, daß wie in alter Zeit wieder ein allgemeines Concilium ver-
sammelt werden müßte, und die gelehrten Theologen, namentlich die
Pariser, bewiesen weitläuftig und gründlich, daß nicht der Papst über
dem Concil, sondern das Concil als die Versammlung aller Bischöfe,
Aebte, Doctoren und Professoren der Theologie über dem Papst stünde
und von dem Concil die Heilung der kranken Kirche an Haupt und
Gliedern geschehen müsse.
§. 10. Die großen Kirchenversammlungen und die
Hussiten.
Daß die Papstgewalt ein Nebel, die Lehre von der Untrüglich-
keit und Göttlichkeit der Päpste ein Unsinn, die Erhebung der geist-
lichen Gewalt über die weltliche ein Verderben beider sei, hatte die
katholische Christenheit durch das Schisma hinlänglich erfahren.
Man hätte meinen sollen, sie würde nun zu der Erkenntniß gekommen
sein, daß die Kirche, welche sich so ganz ihres geistlichen Charakters
entkleidete und in so schändliche Sünden und Spaltungen sich ge-
stürzt hatte, innerlich krank und faul sei und einer gründlichen innern
Reinigung bedürfe. Aber bis zu dieser Einsicht war nur eine sehr kleine
Zahl wahrheitsuchender Männer gelangt. Zuerst Wicleffe in Eng-
land, in dem von den Päpsten in der übermüthigsten Weise behandel-
ten und ausgesogenen Lande, wo jetzt König und Volk die Schwä-
chung der Papstmacht benutzten, um sich von einigen der entehrend-
sten Pflichten gegen die Päpste loszumachen, und sich von dem Pre-
diger und Professor Wicleffe beweisen ließen, daß das Papstthum
nicht eine göttliche, sondern eine menschliche Einrichtung >ei, daß die
Kirche gar kein sichtbares Haupt bedürfe und deshalb auch das
Papstthum unter Umständen wieder aufgehoben werden könne. Da-
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Xxi. §. 11. Kreuzzüge Wider die Ketzer.
417
unruhigen Gewissens, insonderheit aus dem demüthigen Forschen in
der heiligen Schrift sich immer lauter und allgemeiner solche Stim-
men erhoben, welche die ganze bestehende Kirche für besteckt, für wi-
derchristlich erklärten und mit Verwerfung aller gewohnten Formen
des Gottesdienstes und der kirchlichen Gemeinschaft sich in kleineren
Kreisen ihre eignen Gottesdienste, auch wobl ihre eignen Lehren zu-
recht machten. Sie thaten das nach dem Maße ihrer Erkenntniß, und
da die unter den verschiedenen Gegnern der herrschenden Kirche sehr
verschieden war, so wichen auch die Forderungen, Lehren und gottes-
dienstlichen Gebräuche der Einzelnen bedeutend von einander ab. Schon
von Alters her hatte es innerhalb der abendländischen Kirche viel
fromme Gemüther, viel erleuchtete Männer gegeben, welche freimüthi-
ges Zeugniß abgaben gegen die Verderbniß der Geistlichkeit, gegen
die Verwerflichkeit einzelner kirchlicher Lehrbeftimmungen, gegen die
falsche Richtung und Verweltlichung des ganzen kirchlichen Systems.
Aber eine weitere Ausbreitung solcher gegenkirchlichen Behauptungen,
die Bildung besonderer Gemeinschaften, die sich geradezu von der kirch-
lichen Praxis lossagten, trat doch eigentlich erst seit dem zwölften Jahr-
hundert hervor. Da war man durch die Kreuzzüge und den ander-
weitigen regen Verkehr mit dem Morgenland bekannter geworden, mit
den aus alter Zeit noch in den griechischen Ländern vorhandenen
Irrlehren; das neue, kühne, hochfliegende Wesen dieser muthigen und
ausdauernden Feinde der bestehenden Kirche erwarb ihnen besonders
in Italien und im südlichen Frankreich und am Rhein entlang eine
unerwartete Theilnahme. Katharer, Reine, nannten sie sich, und
im Allgemeinen können selbst ihre Feinde ihnen das Zeugniß nicht
versagen, daß ihr Wandel reiner und heiliger gewesen, als er durch-
schnittlich innerhalb der Kirche zu finden war. Aber ihre Lehren
waren zum Theil ganz ungeheuerlich und widersinnig. Man fand
Leute unter ihnen, die zwei Götter glaubten, einen guten und einen
bösen, oder die Welt für ungcschaffen und ewig, oder das ganze
Weltall für Gott erklärten, oder die sich selbst dem Sohne Gottes
gleichftellten oder im alleinigen Besitz des heiligen Geistes zu sein
Vorgaben. Daß Päpste und Bischöfe, Priester und Mönche gegen
solche heillose Jrrthümer zu Felde zogen, war ja recht und gut, wenn
sie es nur mit dem Wort der Wahrheit und dem Schwert des Gei-
stes gethan hätten. Aber schlimmer wurde es, als zu Papst Jnno-
.cenz Iii. Zeiten eine neue Secte sich ausbreitete, die Waldenser,
die ganz und allein sich auf das Wort Gottes stützten, und nur das
wollten als recht und wahr gelten lassen, was in der heiligen Schrift
v. Rohden, Leitfaden. 27
TM Hauptwörter (50): [T27: [Kirche Luther Lehre Kloster Jahr Bischof Schrift Papst Reformation Wittenberg], T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand]]
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Xxii. §. 10. Die großen Kirchenversammlungen und die Hussiten. 457
Das zweite zu Kostnitz, 1415—18, saß drei Jahre und meinte ein
Großes gethan zu haben, da es den mit Lastern und greulichen Ver-
brechen wie mit einem unflätigen Gewand überkleideten Papst Jo-
hann Xxiii. absetzte und die beiden anderen Päpste zur Abdankung
bewog. Aber wie wenig es selbst in der Wahrheit stünde, bewies
das Concil in jammervollster Weise dadurch, daß es den Zeugen der
Wahrheit, Johann Huß, elendiglich als einen Ketzer verbrannte.
Das dritte Concil zu Basel, 1431—49, saß gar achtzehn Jahre.
Aber obgleich es eine Menge heilsamer kirchlicher Gesetze zur Abstel-
lung der gröbsten Uebelstände gab, fand cs doch kein Heilmittel wi-
der den Hauptschaden. Es gerieth vielmehr in Zerwürfniß mit dem
Papst, in Zerwürfniß mit sich selber und mit einem großen Theil der
Christenheit, und trat, nachdem es in den letzten Jahren eine kläg-
liche Rolle gespielt, mit Schimpf und Schande wieder vom Schau-
platz ab.
Das erste Concilium, zu Pisa, hatten die Cardinäle ausgeschrie-
den und zwar die römischen und französischen Cardinäle in Gemein-
schaft, denn es lag ihnen wirklich daran, die Einheit und dadurch die
Macht und den Einfluß des Papstthums wiederherzustellen. Nachdem
sie nun zu Pisa den Papst Alerander V. gewählt hatten, betrug
der sich sogleich wieder als Herr des Concils, löste es auf und tröstete
die erschrockenen Reformfreunde mit der Aussicht auf ein bald zu beru-
fendes neues Concil, wo die Reformation der Kirche sollte in Bera-
thung gezogen werden. Er wußte nur zu gut, daß die Leute, die in
Pisa versammelt waren, auch keine Heilige seien, und kannte die Ränke
und Schleichwege sehr genau, durch die man bei ihnen Vieles und Alles
durchsetzen konnte. Als dann nach Alepa nder's Tode 1410 der
Cardinal Balthasar Cossa, einer der verrufensten und schändlich-
sten Menschen, Papst geworden war (er nannte sich Johann Xxiii.),
ward er zwar durch das Drängen des Kaisers Siegmund, durch
die lästigen Anforderungen der Pariser Universität und durch den an-
dauernden Streit mit den anderen beiden Päpsten gezwungen, das Con-
cil nach Coftnitz zu berufen, aber er that es mit der Absicht und in der
Hoffnung, auch dort Alles in eine bloße Spiegelfechterei zu verkehren und
die Versammlung so bald als möglich wieder aufzulösen. Das gelang
ihm nun zwar nicht. Zu gewaltige Schaaren von gelehrten und ge-
wandten Geistlichen und Laien waren dort aus allen christlichen Ländern
zusammengeströmt (an 80,000 Menschen), die nicht so leicht mit sich
umspringen und sich wieder nach Hause schicken ließen. Der Kaiser
Siegmund in aller Pracht seiner glänzenden äußern Erscheinung
hielt dort seinen Hof und die angesehensten deutschen Fürsten mit ihm.
Gesandte aus allen Ländern, aus Griechenland und aus Schottland,
aus Schweden und aus Cypern, aus Portugal und aus Rußland wa-
ren mit ihrem zahlreichen Gefolge erschienen. Weiter aber lagerte auch
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Extrahierte Personennamen: Johann_Huß Johann Alerander_V. Balthasar_Cossa Johann_Xxiii Johann Siegmund Siegmund
Xxii. §. ]2. Eintritt der spanischen Macht mit ihren Entdeckungen rc. 463
§. 12. Eintritt der spanischen Macht mit ihren Ent-
deckungen in die Völkergeschichte.
Von den östlichen Grenzlündern des südlichen Europa müssen
wir uns, ehe wir wieder zu dem Mittelpunkte unserer Geschichte, nach
Deutschland zurückkehren, noch erst zu dem äußersten Westen wenden,
zu den Völkern der pyrenäischen Halbinsel. Deren Privaterziehung
(wenn man es so nennen mag) war soeben vollendet und sie wur-
den nun berufen zum Miteingreifen in die Entwicklung der europäischen
Christenheit. Es war freilich ein trauriger und bald vollendeter Be-
ruf, der ihnen zu Theil geworden ist, nämlich der, die wankende Macht
des Papstthums und des gesammten Katholicismus mit ganzer Kraft,
mit List und Gewalt zu stützen und ihm neue Siege zu verschaf-
fen nicht bloß in Europa, sondern auch in den fernen Ländern neu
entdeckter Welttheile. Denn obwohl jetzt ein neuer Zeitabschnitt sich
vorbereitet, da ein mündig gewordenes Geschlecht dem Gängelbande
der päpstlichen Priesterschaft sich entzieht und die, welche sich nach
Wahrheit sehnen, die Wahrheit wirklich finden und bekennen können,
so haben wir doch nirgend eine Zusage, daß das Papstreich lediglich
durch die Verbreitung evangelischer Wahrheit gestürzt werden wird.
Das sind ganz andere Mächte, die es stürzen sollen. Wider die Be-
kenner der Wahrheit entwickelt es nach augenblicklichem Zurückweichen
und trotz der bedeutenden Verringerung seines Gebiets eine desto grö-
ßere Energie des Widerstandes und des Angriffs, und Spanien ist es,
welches ihm zu diesem Zweck diesseits und jenseits des Oceans gleich
anfangs und für lange Zeit seine geistigen Kräfte und seine Waffen leiht.
Im ersten Augenblick, da wir uns jetzt von dem jammervollen
Bild des untergehenden Griechen- und des aufsteigenden Türkenreichs
nach der spanischen Halbinsel hinüber wenden, werden wir freilich mit
Bewunderung und Freude erfüllt. Da sehen wir nämlich ein umge-
kehrtes Schauspiel: die einst so mächtige arabische Herrschaft in Spa-
nien geht zu Grunde, das letzte mohamedanische Königreich Gra-
nada wird unterworfen und in großer Herrlichkeit breiten sich die
einst von den Arabern bis in die äußersten Schlupfwinkel der nörd-
lichen Gebirge verfolgten Christen, im Glanze tausendfacher Siege,
als zwei oder drei mächtige Königreiche von den Pyrenäen bis zur Spitze
von Gibraltar aus. Aber so wie man den Blick wendet und im Hin-
tergründe der siegreichen Ehristcnschaaren die Scheiterhaufen flammen
sieht, auf denen Juden und Saracene» und Ketzer zu Tausenden er-
barmungslos verbrannt werden, wenn man in die finsteren Kerker der
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Extrahierte Personennamen: Gibraltar
Extrahierte Ortsnamen: Europa Deutschland Europa Spanien
474 Xxii. §. 15. Innerer Verfall des Papstthums.
und Aberglauben war Thor und Thür geöffnet, und die „frommen
Erfindungen" nahmen kein Ende. Der Gottesdienst wurde all-
malig zum leeren Gepränge eines priesterlichen Opferdienstes. In
unerhörter Weise wurden die Messen vervielfältigt und in den Augen
des Volkes gehoben, damit die Priester desto größer» Gewinn davon
hätten. Noch reichern Ertrag brachte die neue Erfindung der Ab-
laßzettel, wonach man für beliebige Preise eine beliebige Anzahl Sün-
den bezahlen und eine größere oder kleinere Quantität der Höllen-
strafen abkaufen konnte. Die gelehrten Theologen jener Zeit, die
Scholastiker, wußten jede noch so widersinnige Behauptung der Kirche
durch Vernunftbeweise zu begründen und verstiegen sich in die unbe-
greiflichsten Behauptungen. Die Lehre vom Fegfeuer, vom Schatz der
guten Werke, über welchen die Kirche zu disponiren habe, vom Blute
Christi, welches in der Hostie oder dem verwandelten Leibe Christi
mit enthalten sei, so daß der Kelch beim Abendmahl nicht vertheilt
werden dürfe; die Lehre von der unbefleckten Empfängniß Mariä
und ihrer mütterlichen Gewalt über den Herrn Jesus im Himmel,
die Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche, von der Heiligkeit des
kirchlichen Amtes trotz aller sittlichen Gemeinheit der priesterlichen
Personen, die Lehre, daß die bedingungslose Unterwerfung unter die
Gebote und Entscheidungen der Kirche der alleinige Weg sei, um in
den Himmel zu kommen — wozu konnte dergleichen anders dienen,
als zur Verwirrung der Gemüther und zur Entsittlichung der unwis-
senden Menge? .Woher hätten die richtigeren Begriffe, woher bi-
blische Klarheit und Erkenntniß ihnen kommen sollen? Die Predigt
war so gut wie ausgestorben. Die meisten Pfarrer konnten nicht ein-
mal predigen; und wo sie es noch thaten, da tischten sie ihren Zu-
hörern die elendesten Fabeln auf, erzählten die widersinnigsten Legen-
den und Wundergeschichten; oder wo sich etwa noch ein Rest schola-
stischer Gelehrsamkeit bei ihnen vorfand, da verstiegen sie sich zum
Theil in die unfruchtbarsten Probleme und unverständlichsten Lehrsätze,
von denen weder sie selbst noch das Volk einen Eindruck auf das Herz
gewinnen konnten. Sah aber die Gemeinde auf das Leben seiner
Geistlichen, so erblickte sie mit geringen Ausnahmen einen großen
über die ganze Kirche ausgebreiteten Sündenpfuhl. Das unselige
Cölibatsgesetz hatte die Unzucht in allen ihren Formen zu einer ver-
meintlichen Nothwendigkeit gemacht. Die Kleriker suchten ihre Wol-
lustsünden nicht einmal mehr zu verbergen, sie waren die schlimmsten
Verführer ihrer weiblichen Gemeindeglieder. Auch die Klöster, so-
wohl Mönchs- als Nonnenklöster, waren anerkanntermaßen die Haupt-
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Extrahierte Ortsnamen: Christi Christi Empfängniß_Mariä
478 Xxir. §. 15. Innerer Verfall deö Papstthums.
Vollendung sehr ausführlich in Gottes Wort dargestellt stnd, dagegen
die durch die Reformation erneuerte Christenheit eigentlich nirgend er-
wähnt wird. Selbst die Thatsache der Reformation, die doch unseren
Augen als eine der bedeutendsten, ja die bedeutendste Epoche in der
Geschichte der christlichen Kirche erscheint, wird von der Weissagung
nur mit so leisen Zügen angedeutet, als ob durch sie gar nicht ein
so gewaltiger Umschwung herbeigeführt sei. Zwar sie sind nicht
vergessen, die jungfräulichen Seelen, die als heiliger Same des
ausgearteten Weibes kämpfen wider den Drachen, und „den
Sieg behalten hatten an dem Thiere und seinem Bilde und seinem
Maalzeichen und seines Namens Zahl." Wir hören auch den Geister-
ruf erschallen: „Gehet aus von ihr, mein Volk, daß ihr nicht theil-
haftig werdet ihrer Sünden, auf daß ihr nicht empfanget etwas von
ihren Plagen." Allein auch das erscheint mehr als ein Fortgehendes,
sich durch längere Zeiträume öfter Wiederholendes, als eine einmalige
zu einem bestimmten Bruch und zur Entscheidung führende Thatsache.
Denn so schmerzlich für uns auch das Zugeständniß ist, so dürfen wir
es uns doch nicht verhehlen, daß auch durch die Reformation noch kei-
neswegs eine apostolische Erneuerung und Läuterung der Christenheit
herbeigeführt ist, daß die Masse der protestantischen Christenheit auch*
heute noch, und gerade recht heut zu Tage, von dem alten Hurenwesen,
von Abfall und Lästerung eben so erfüllt ist, wie die katholische
Welt, daß auch auf unserer Seite nur eine verhältnißmäßig kleine Zahl
es ist, welche die jungfräuliche Reinheit apostolischer Zeiten als ihren
Schmuck und Siegel aufweisen kann. So hoch wir also auch das Gottes-
werk der Reformation zu preisen haben, als das Mittel, durch
welches uns und vielen Tausenden das Licht wieder aufgegangen ist in
der Finsterniß, so müssen wir doch sagen, daß im Großen und Ganzen
das Verhältniß der Christenheit zum Herrn wesentlich dasselbe geblie-
den ist.
Es wiederholt sich, wie schon öfter bemerkt ist, die Geschichte des
israelitischen Gottesstaates in der Geschichte der christlichen Kirche. Auch
in Israel gab es einst eine glänzende theokratische Herrschermacht, der
alle Könige der Welt Geschenke brachten, auch dort gab es geistliche
Hurerei und Abfall, der die Stimme der Propheten nicht wehren konnte;
auch dort erfolgte ein Schisma und eine babylonische Gefangen-
schaft, wie Luther von einer babylonischen Gefangenschaft der Kirche
zu schreiben wußte. Aber eine neue Zeit brach an. Ein kleiner Rest
des Gottesvolkes kehrte wieder nach Jerusalem, erbaute daö zertrüm-
merte Gotteshaus, hielt sich wieder zum Gesetz und Zeugniß, gab den
von Gott gesandten Propheten die Ehre, kämpfte muthig gegen die
feindlichen halbheidnisch gewordenen Nachbarn, und behielt schließlich
den Sieg. Aber wie ging es weiter? Pharisäer und Sadducäer stan-
den bald wider einander, gleichgültig oder fanatisch stand die Menge
umher. Als der antichristische Ep ip Han es herein brach, fielen ihm
Hirten und Heerden mit Haufen zu, und nur ein sehr geringer Bruch-
theil war es, der widerstand bis auf's Blut und sein Leben reicht lieb
hatte, wo es galt, das ewige Leben zu gewinnen. Das ist, soweit
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Xxiii. §. 1. Die Vorarbeiter und Bahnbereiter der Reformation. 479
bis jetzt die Thatsachen reichen, die weissagende Geschichte auch unserer
Kirche seit der Reformation.
Xxiii. Die Zeiten der Reformation.
Motto: Das Licht gehet wieder auf in der Finsternix.
§. I. Die Vorarbeiter und Bahnbereiter der
Reformation.
Wir kennen sie schon, jene stillen Kreise „der Uebrigen von dem
Samen des Weibes" (Apok. 12, 17), in welche wie in eine Brüder-
gemeinde die wahre Herzensfrömmigkeit sich geflüchtet hatte, die im
setzten Jahrhundert vor der Reformation aus dem öffentlichen und
kirchlichen Leben verscheucht schien. In ganz besonderm Glanze tritt
uns noch einmal an der Schwelle der Reformation jener mystisch
praktische Verein der Brüder des gemeinsamen Lebens ent-
gegen, denn dessen edelste Blüthe, der theure Gottesmann Thomas
von Kempen mit seinem nie genug zu empfehlenden Büchlein von
der Nachahmung Christi, ist nur zwölf Jahre vor Luth er's Ge-
burt gestorben. Da ist gesunde und nahrhafte Speise für die Seelen,
Katholiken wie Protestanten gleich schmackhaft und heilsam, denn fern
von allem Formelkram, von allen Aeußerlichkeiten und Zwischenpersv-
nen steht hier der Christ unmittelbar und unverhüllt dem heiligen und»
väterlichen Auge seines Gottes gegenüber. Thomas und seine zahl-
reichen Freunde und Geistesgenossen hatten ihr Wesen am nordwest-
lichen Ende Deutschlands, am Niederrhein. Um dieselbe Zeit aber
hatte auch am südöstlichen Ende schon halb in den slavischen Landen
der gottselige Verein der mährischen Brüder den ewigen Grund
gefunden, da sie mitten unter allen Leiden dieser Zeit den starken An-
ker ihres Glaubens und ihrer Hoffnung einschlagen konnten. Und
wiederum tief im Süden, schon über die Grenzen Deutschlands hin-
aus, begegnet uns in den Alpenthälern Savoyens die stille und
gottselige Schaar der Waldenser, die ebenfalls unter blutigen Mar-
tern und Todesschrecken sich erbauet hatte auf ihren allerheiligsten,
wahrhaft evangelischen Glauben. In der Mitte Deutschlands aber
und weit nach allen Seiten sich verbreitend finden wir den noch nicht
lange wieder erneuerten Orden der Augustiner, der sich wiederauf
die uralten Lehren seines Patrons, des Kirchenvaters Augustinus,
besonnen hatte und den Satz von der freien Gnade Gottes in
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Extrahierte Personennamen: Thomas
von_Kempen Thomas Kirchenvaters_Augustinus
Extrahierte Ortsnamen: Christi Deutschlands Niederrhein Deutschlands Savoyens Deutschlands Gottes
496 Xxiii. §. 6. Nlederbeucning und Wiederaufrichtung der Papstmacht.
reits erfüllen zu sollen, wonach „die große Stadt, die das Reich hat
über die Könige auf Erden, von eben diesen Königen bloß und wüste
gemacht und mit Feuer verbrannt werden wird." Aber solche Zeit
steht noch bevor. Viel zu sehr hatte der katholische Kaiser den
Papst nöthig, als daß er ihn gänzlich hätte verderben sollen. Wir
sehen ihn bald wieder Unterhandlungen mit seinem Gefangenen an-
knüpfen, ihn freigeben, sich mit ihm verbünden. Mit heimlichem
Widerwillen, aber durch die Umstände gezwungen, tritt der Papst
wieder auf die Seite des Kaisers. Er muß den übermächtigen Nach-
bar in Italien dulden, muß sich bereit erklären, seine politischen Ent-
würfe zu unterstützen — aber Eins bedingt er sich dafür aus, Eins
gewährt ihm der Kaiser zur erwünschten Entschädigung: seinen kräf-
tigen Arm zur Ausrottung der lutherischen Ketzerei. Im Jahr 1529
kommt Kaiser Karl selber aus Spanien nach Italien. In Bologna
trifft er mit dem Papst zusammen. Er ist auf dem Wege nach Deutsch-
land. Da werden die schärfsten Maßregeln gegen die hartnäckigen
Ketzer in Deutschland verabredet. Und bemerken wir es wohl. Der
Kaiser war jetzt ein Anderer, als vor neun Jahren, er war jetzt in die
Jahre der Reife und der Selbständigkeit eingetreten. Von jetzt an
sehen wir ihn im Rache wie im Felde überall selbst an der Spitze,
bei ihm steht immer die letzte Entscheidung, überall sieht er selbst,
urthellt er selbst, handelt er selbst. Unermüdlich ist er in den Staats-
geschäften, unüberwindlich im Felde. Und alle dieft so lange gesparte
Kraft, alle den frischen Eifer einer langsam bedachten, aber nun ent-
schieden ergriffenen Politik ist der Kaiser entschlossen zur neuen
Kräftigung des Papstthums in Deutschland gegen die Protestanten
zu kehren.
Schon länger waren die ersten vorläufigen Wirkungen der neuge-
kräftigten Papstmacht und des entschieden kaiserlichen Katholicismus
in Deutschland wahrgenommen. Die katholisch gesinnten Fürsten und
Städte, insonderheit die geistlichen Fürsten, deren Eristenz bedroht
war, deren Besitzungen hier und da bereits eingezogen wurden, erhüben
wieder ihr Haupt, traten aus einer abwehrenden wieder in eine angrei-
fende Haltung. Da wurden die Lutherischen verfolgt, da wurde das
erste Märtyrerblut der evangelischen Kirche vergossen. Die Herzoge von
Bayern und die kleineren mit dem päpstlichen Legaten verbundenen Für-
sten und Bischöfe hatten gleich nach ihrer Absonderung von der großen
Gesammtaufgabe des deutschen Volks angefangen, evangelisch gesinnte
Priester zu entsetzen, in's Gefängniß zu werfen, adlige Besitzer aus
ihren Gütern zu vertreiben, Beamte peinlich zu verhören, Bürger und
Bauern hinzurichten. Besonders eifrige Prediger wurden mit der Zunge
an den Pranger genagelt, andere mit dem Staupbesen gestrichen, Luther's
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Extrahierte Ortsnamen: Italien Spanien Italien Bologna Deutsch- Deutschland Deutschland Deutschland Bayern
498 Xxiii. §. 7. Bekenntniß und Bündniß der Evangelischen.
davon waren die Evangelischen in Deutschland überzeugt, hatten auch
sie zu erwarten. So wie der Kaiser sich den deutschen Grenzen
näherte, machte Jedermann sich auf schweren Krieg und Verfolgung
gefaßt.
§. 7. Bekenntniß und Bündniß der Evangelischen.
Was thaten nun Luther und seine Freunde, was thaten die Für-
sten und Städte, die ihm anhingen, als der mächtige Kaiser mit der
entschiedenen Absicht, sie zu verderben, über die Alpen daherzog? For-
derten sie mit feurigen Worten zum Widerstand auf, riefen sie ihre
Freunde und Genossen zum Kampf für die heiligsten Güter, für die
Freiheit der Predigt, für die Reinheit der Lehre? Nichts weniger.
Sie erklärten: um des Glaubens willen dürfe man nicht zu den Waf-
fen greisen, man müsse die Noth und den Schaden tragen. Der
Kurfürst von Sachsen war entschlossen, dem Kaiser sein Land zu öffnen,
und ihn darin nach Willkür verfahren zu lassen. Das war auch die
Meinung des Markgrafen von Brandenburg, der Stadt Nürnberg
und der anderen evangelischen Fürsten und Städte. Man hatte zwar
schon längst daran gearbeitet, sich näher zu verbinden, sich zu gemein-
samem Widerstand zu rüsten, besonders der feurige Landgraf Philipp
von Hessen hatte sehr dazu gedrängt. Aber jetzt, da der Kaiser er-
scheint, der rechtmäßige Oberherr, läßt man alle kriegerischen Gedan-
ken fahren. Man tritt zusammen, ja, man beräth sich, aber nicht
über Vertheidigungsanstalten, über Stellung von Mannschaft, Befe-
stigung von Schlössern, sondern über die Ausarbeitung einer kleinen
Schrift, über die Feststellung einer Reihe von Artikeln, über die Un-
terzeichnung eines Bekenntnisses, welches Melanchthon unter Luther's
Zustimmung ausgeschrieben, und welches nun die Fürsten von Sachsen
Hessen, Lüneburg, Anhalt und Brandenburg nebst etlichen Städten
sich aneigneten und Unterschrieben. Das ist die berühmte augs-
burgische Confession, das noch heute zu Recht bestehende Be-
kenntniß der evangelischen Christenheit, nebst Luther's Katechismus der
wertheste Eckstein der lutherischen Kirche. Sie ward am 25. Juni
1530 auf dem Reichstage zu Augsburg vor Kaiser und Reich feier-
lich verlesen, und von Allen, welche der Wahrheit die Ehre gaben,
mit größter Theilnahme und Beifall ausgenommen. Die Katholischen
konnten sie nicht widerlegen, obwohl sie es versuchten. Sie gaben es
bald auf, wider das Schwert des Geistes, wider das Wort Gottes
mit gleichen Waffen zu kämpfen; sie griffen schnell zu einer andern
Widerlegung — durch Gewalt. Zwar nicht die Mehrzahl der
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Extrahierte Personennamen: Jedermann Philipp
von_Hessen Philipp Melanchthon
482 Xxm. §. 2. Erstes Hervortreten der Reformatoren.
Heiligen anrufen zu müssen, statt den viel lustigern Dienst des Bacchus
und der Aphrodite wieder aufzunehmen. Päpste, Cardinäle, Bischöfe
und Aebte sah man mit Fürsten und Obrigkeiten ganz ungescheut dem
alten Heidenthum sich ergeben und wenigstens in vertrauteren Kreisen
sich üben, mit heidnischer Zunge heidnische Gedanken in Umlauf zu
setzen. In Deutschland finden wir von solcher Wirkung des wiederauf-
gefundenen Alterthums kaum eine Spur. Desto eifriger beschäftigte
man sich hier mit Sprachstudium und Grammatik. Man eilte, den
mittelalterlichen Kirchenstil-des verdorbenen Latein von sich abzuthun
und sich einer eleganten und correcten Rede zu befleißigen. Die Schu-
len wurden umgestaltet. An die Stelle der scholastischen Lehrer traten
die freier und feiner gebildeten Humanisten. Ein großer Eifer der
Forschung, der Weiterbildung erwachte. Vor allen Dingen aber wen-
dete man die kauni gettonnenen neuen Kenntnisse auf die heilige Schrift
an. Bibelübersetzungen und Umschreibungen erschienen in rascher Folge,
noch unvollkommen, aber sie brachen Bahn und deckten das vorhandene
Bedürfniß auf.
§. 2. Erstes Hervortreten der Reformatoren.
So Viele aber auch da waren, welche laut über das Verderben
der Kirche klagten und nachwiesen, wie nothwendig eine Aenderung
sei, so Viele auch da waren, welche die rechte Lehre schon rein und
lauterlich vortrugen, so hatte doch von ihnen allen bisher noch Keiner
gewagt, dem Papst und seinen Anordnungen geradezu entgegenzu-
treten, sich seinem Gehorsam zu entziehen und es wirklich zu einem
Bruch mit dem ganzen hierarchischen System zu treiben. Auch die
lautesten Spötter, auch die gediegensten Lehrer, sie gingen doch ge-
horsamlich in den hergebrachten kirchlichen Geleisen, und wenn sie selbst
den Papst für den leibhaftigen Antichrist erklärt hätten, so würden sie
ihm doch nichts desto minder gehorcht haben. Solche Hmte schienenden
Wächtern der römischen Kirche wenig gefährlich, man ließ sie gewäh-
ren. Wo aber einer es wagen sollte, etwas gar zu stark an dem Be-
stehenden zu rütteln, da hatte er noch immer die Strafgewalt der Kirche
zu fürchten. Noch in hohem Alter ward Johann v. Wesalia vor
das geistliche Gericht geladen, auch Reuchlin's Bücher wurden ver-
brannt und es fehlte nicht viel, so wäre er selber verurtheilt. So war
es doch auch jetzt nichts Geringes, den Kampf gegen die riesige Macht
der Kirche zu wagen, auch die Besten scheuten davor zurück. Wäh-
rend nun aber alle Welt erwartungsvoll ftaub und darin einig war, daß
Etwas geschehen müsse, und doch nicht wußte, wie und was und von
wem? siehe da erscholl (1517) von Wittenberg aus die große Kunde,
ein Augustinermönch, ein Professor an der Universität, vr. Martin
Luther habe es gewagt, einen Beamten und Abgeordneten des Erz-
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Extrahierte Personennamen: Johann Wesalia Martin
Luther